Impuls - Mai 2023

01. Mai 2023

Unterbrechen

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurde in Berlin-Karlshorst durch die Führung der Deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation unterschrieben. Damit war der zweite Weltkrieg, einer der brutalsten Kriege in der Menschheitsgeschichte, in Europa zu Ende. Am Krieg und seinen Folgen einschließlich der Opfer des Holocaust starben zwischen 60 und 80 Millionen Menschen weltweit. Wie konnte es soweit kommen? Warum ist der Mensch nicht in der Lage, aus seinen Fehlern zu lernen? Warum neigen wir dazu, immer wieder unsere Auseinandersetzungen mit Gewalt lösen zu wollen?

Ein Krieg, wie der 2. Weltkrieg, hat nicht wirklich überrascht. Wer genau hingesehen hat, konnte diesen Krieg kommen sehen. Und das trifft auf fast alle Konflikte zu. Da spitzt sich etwas zu, die Geschwindigkeit, in der sich die Gewaltspirale dreht, nimmt immer mehr zu. Und mit einem Mal bricht der Konflikt aus – wie im Fall des 2. Weltkrieges fast immer durch eine vermeintliche „finale“ Provokation.

Auch heute kann man allzu oft zusehen, wie es zur folgenschweren Eruption kommt. Ganz aktuell im Sudan, für uns noch viel „wirkungsvoller“ seit über einem Jahr durch Russland in der Ukraine.

Aber – was kann man dagegen machen? Wie kann eine solche Entwicklung unterbrochen oder gar verhindert werden? Auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung erschien 1983 ein Büchlein des bekannten Journalisten Franz Alt, in dem er postulierte: Frieden ist möglich! Er stellte sich damit auf die Seite der Friedensbewegung, die sich in Westdeutschland gegen ein Weiterdrehen der Rüstungsspirale durch die NATO-Nachrüstung stellte und sich dafür einsetzte, nach anderen Wegen des Ausgleichs zwischen den unversöhnlichen politischen Systemen zu suchen. Alt entwickelte in seinem Buch eine Ethik des Unterbrechens, in dem er den radikalen Ansatz, den Jesus von Nazareth in seiner Bergpredigt verfolgt, auf die damalige Situation anwendet. Statt Vergeltung zu üben, Unrecht ertragen; statt zurückzuschlagen, Schläge einstecken; statt dem Feind ein Feind zu werden, lieben! In den sog. Seligpreisungen bringt Jesus Christus das auf den Punkt, wenn er sagt: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen – oder mit anderen Worten: als geliebte Kinder Gottes an einer neuen Architektur unserer Welt arbeiten.

Ähnliche Thesen, wie Franz Alt vor 40 Jahren, werden auch heute wieder bzw. noch im Blick auf den Krieg in der Ukraine vertreten. Und das ist gut und wichtig, aber auch nur eine Seite der Wahrheit. Am Ende geht es darum, die Gewalt zu unterbrechen. Aber eine einseitige Bereitschaft dazu wird nicht zu einem Ende von Gewalt, Zerstörung und Tod führen, wenn absehbar ist, dass die andere Seite an ihrem gewalttätigen Kurs festhalten wird. Diese Erkenntnis hat im Übrigen zum NATO-Doppelbeschluss geführt, der einerseits beinhaltete, mit dem Warschauer Pakt über den Abbau der Atom-Arsenale zu verhandeln, gleichzeitig aber eine Modernisierung des eigenen atomaren Waffenbestandes voranzutreiben.

Wenn also heute die westlichen Demokratien der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland beistehen, dann ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit gut und richtig. Gleichzeitig aber ist es nötig, schon heute über eine Zeit nach dem Krieg nachzudenken und sich dabei von den Gedanken der Bergpredigt bewegen zu lassen. Denn der Tag wird kommen, da wir über Versöhnung reden müssen, wenn eine gemeinsame Weltordnung wieder errichtet werden soll. Deshalb hatte sich in Vorbereitung auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg in den USA auch der Marshall-Plan gegen den Morgenthau-Plan durchgesetzt.

Torsten Ernst